Henry van de Velde ist nicht nur ein Beispiel für die kulturelle Verbindung zwischen Belgien und Deutschland, sondern auch ein europäisches Kulturereignis.
Henry van de Velde begann als neoimpressionistischer Maler in geistiger Verwandschaft mit Seurat, Signac u. a. Er stellte ganz früh zusammen mit van Gogh aus und gehörte zu dessen ersten Bewunderern.
Angeregt durch die Art and Crafts Bewegung in England (Morris u. a.), die den Historismus des 19. Jhd. ablehnte und eine handwerklich gediegene und den realen Bedürfnissen angepasste Gestaltung von Häusern und Gebrauchsgegenständen forderte, wandte sich Henry van de Velde der Architektur und der Gestaltung von Möbeln, Lampen, Geschirr, Bestecken, Teppichen, Stoffen und Schmuck zu („Vater des modernen Design“).
Über seine Möbelentwürfe erlangte er sehr früh Geltung in Frankreich und Deutschland. In Paris stattete er z. b. die Geschäftsräume des berühmten Händlers japanischer Kunst, Samuel Bing, aus. Nach der Pariser Weltausstellung 1878 wurde insbesondere über Samuel Bing die japanische Kunst der europäischen Öffentlichkeit zugänglich. Es ist nachgewiesen, dass sowohl van Gogh als auch Henry van de Velde erheblich von der japanischen Kunst beeinflusst wurden und in ihrer Formensprache nicht ohne Japan denkbar wären.
Henry van de Velde stellte bereits 1897 auf der Kunstgewerbeausstellung in Dresden aus.
1900 Umzug nach Berlin, dort eigene Möbelwerkstätten, Einrichtung des berühmten Kunsthauses Cassierer, der Wohnung des Grafen Kessler, des Kaiserlichen Frisiersalons Haby u. a.
1902 Umzug nach Weimar, dort als künstlerischer Berater des Großherzogs und als Leiter der Kunstgewerbeschule (bis 1914) tätig. In dieser Zeit war Henry van de Velde auch künstlerischer Berater von thüringischen Handwerksbetrieben (Töpferei, Möbeltischlerei, Korbflechterei usw.). In Weimar, Gera, Chemnitz, aber auch in Hagen entstanden in dieser Zeit zahlreiche von ihm entworfene Wohnhäuser samt Inneneinrichtung, bis zu täglichen Gebrauchsgegenständen und Kleidern für die Frauen der Besitzer.
Bereits vor dem Bauhaus akzeptierte Henry van de Velde die Ästhetik moderner Maschinen und maschinell hergestellter Produkte. Er passte nicht nur die Architektur den modernen technischen Bedingungen an, sondern brach radikal mit der Formensprache des 19. Jhd., mit ihren überflüssigen, aufgeklebten Ornamenten und einer Gebäudegestalt, die nicht durch die Innenräume bestimmt wird, sondern durch historische Wiederholungen.
Nach Zerwürfnissen mit dem letztlich konservativen Großherzog und den kleinlichen Weimarer Verhältnissen, wurde Henry van de Velde 1914 entlassen, und, weil er zu Beginn des 1. Weltkrieges als feindlicher Ausländer angesehen wurde, unter Bewachung gestellt.
Nach dem 1. Weltkrieg vermittelte er Gropius an das spätere Bauhaus in Weimar. Zunächst bestand die Absicht, Henry van de Velde im Weimarer Bauhaus eine Möglichkeit des Weiterwirkens zu geben. In einem Akt der Geringschätzung wurde ihm von den späteren „Bauhäuslern“ keine Gelegenheit gegeben, weiter am Bauhaus zu arbeiten.
Über die Schweiz gelangte er nach Holland. Dort erstellte er die grandiosen Entwürfe für das Kröller-Müller Museum, welches schließlich in einer reduzierten Form gebaut wurde.
1926 Übersiedlung nach Brüssel und dort seit 1927 mit der Leitung der wichtigen belgischen Kunstschule La Cambre beauftragt, die heute seine Entwürfe (soweit noch vorhanden) aufbewahrt.
Nachdem Henry van de Velde in Deutschland nicht nur den floralen Jugendstil in Richtung einer klaren, „vernunftgemäßen“ Gestaltung überwunden und die künstlerische Entwicklung direkt auf die folgende Moderne gelenkt hatte, entwickelte er sich selbst in den 30-iger Jahren zu einem der bedeutendsten Vertreter des Art deco. Er baute Wohn- und Verwaltungsgebäude in Belgien, Holland, Deutschland und Lettland. Zu den bedeutendsten Gebäuden dieser Zeit gehören die Universitätsbibliothek in Gent, der großartige Ausstellungspavillon Belgiens auf der Pariser Weltausstellung 1937, der es architektonisch mit dem dahinterstehenden Eiffelturm „aufnehmen“ konnte, der Pavillon Belgiens auf der Weltausstellung in den USA 1939, die Technische Hochschule in Leuven; daneben Denkmäler, Möbel, Gestaltung von Büchern sowie bedeutende Entwürfe wie z. B. für die Bebauung des Schelde Ufers in Antwerpen. Weiterhin gestaltete er einen Ozeandampfer nebst Inneneinrichtung und Eisenbahnwaggons.
Neben seiem unermesslichen Werk im Sinne des Neuen Stils ist Henry van de Velde als ein Vermittler von Kunst und Künstlern auf europäischem Niveau bekannt. Er brachte Signac, Rodin, Maillol nach Deutschland, weiterhin den Belgier Meunier, er beeinflusste die deutschen Neoimpressionisten wie Kurt Herrmann, Ludwig von Hoffmann, Paul Baum; schließlich gingen deutsche Impulse über ihn zurück nach Belgien, Frankreich, Holland und England.
Durch sein langes Leben (1863 - 1957) war es ihm vergönnt, eine künstlerische Entwicklung von van Gogh und William Morris bis hin zu den Expressionisten (E. L. Kirchner), dem Art deco und den Konstruktivisten (Max Bill) zu beeinflussen und mitzugestalten. Diese zeitliche aber auch die europäische Dimension lassen in verbindung mit dem riesigen Werk und den vielen grundlegenden theoretischen Schriften, die Bedeutung Henry van de Veldes erahnen. Lange Zeit wurde sein Werk nicht ausreichend gewürdigt und seine künstlerische Hinterlassenschaft vernachlässigt.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist sein Werk stärker ins Blickfeld gerückt, da sich sein künstlerisches Hauptwerk der deutschen Periode bis zum 1. Weltkrieg im Osten Deutschlands befand. In diesem Zuge wurde Henry van de Velde auch wieder in seiner europäischen Dimension sichtbar. Weiterhin muß erwähnt werden, dass das Hauptwerk seiner 2. Schaffensperiode sich in Belgien und Holland befindet und dass er dort ebenfalls die nötige Würdigung erfahren muss. Dazu gehört auch die Erhaltung der Gebäude und des Nachlasses.
Die Tragik Henry van de Veldes war, dass er überall der Ausländer war, erst in Deutschland, dann in der Schweiz und in Holland, aber auch in Belgien, wo er oft mehr mit Deutschland identifiziert wurde als mit seinem Heimatland.
Eingangs wurde bereits erwähnt, dass Henry van de Velde ein europäisches Phänomen ist. Sein Werk ist darüber hinaus ein globales Ereignis, wenn man seine heutige Resonanz in Amerika, vor allem aber in Japan (von wo er soviel Anregungen erfuhr) betrachtet und seine zunehmende Anerkennung als Wegbereiter des Bauhauses bedenkt.